Jazzfestival Saalfelden, 21. bis 24. August
Kurz vor Ende des 45. Festivals bedankt sich Intendant Mario Steidl bei allen fürs Kommen. Er übermittelt auch die Begeisterung der Musiker für das Publikum, für Konzentration, Aufmerksamkeit und Applausfreude. Und danach spielen noch The Bad+, in diesem Fall Reid Anderson (b), Dave King (dr), Craig Taborn (p) und Chris Potter (sax) die Musik des amerikanischen Keith Jarrett Quartet aus den 70ern. Klassischer, großzügiger Jazz, zeitlos und dicht, mit famosen Soli. Als das Quartett Charlie Hadens Silence intoniert, reduziert in sehr langsamem Tempo, könnte man wirklich die berühmte Stecknadel fallen hören, beim letzten Konzert des letzten Tags eines nicht unanstrengenden Festivals mit zahlreichen Höhepunkten und raren Niederlagen.

Ein wirklich nicht besonderes Konzert lieferte das eigentlich sympathische Projekt Bezau Beatz Orchestra of Good Hope, das der Drummer Alfred Vogel zur Feier seiner Genesung von der Leukämie ins Leben gerufen hat. Da werden Hochbegabte, Luîs Vicente (tp), Camila Nebbia (sax), Leo Genovese (p) und anderen vergeudet, ja zur Untätigkeit verdammt. Vielleicht hätten ein paar strukturierende Vorgaben Sinn ergeben, ein paar Zeichen auch das Schlussmachen erleichtert. Leo Genovese ist dafür bei den Short Cuts im Nexus an einem absoluten Highlight wesentlich beteiligt: Mit dem Vokalvirtuosen Andreas Schaerer gestaltet er ein ebenso unterhaltsames wie aufregendes Duo. Schaerer nutzt alle Optionen seiner Stimme, parliert in fremden Zungen, krächzt, stöhnt, brummt am tiefsten Grund und erklimmt höchste Countertenor-Gebirge. Genovese hält dagegen, ist ein ebenbürtiger Diskussionspartner. Fantastisch.
Zwei Ensembles unter weiblicher Führung sorgen für Spektakuläres, überhaupt war der weibliche Anteil bei diesem Festival sehr beachtlich. Zuerst Patricia Brennan mit ihrem hochkarätig besetzten Septett Breaking Stretch. Klar strukturierte Stücke geben Halt und Orientierung für ausgefuchste Solisten, wie dem Saxofonisten Jon Irabagon oder dem Trompeter Adam O‘ Farrill. Vibrafonistin Brennan artikuliert Sehnsucht nach ihrer mexikanischen Heimat, verschränkt Choralartiges mit anrührendem Gospel. Fast noch beeindruckender: das Hong Bida Orchestra der koreanischen Schlagzeugerin mit Wohnsitz Amsterdam, Sun Mi Hong. Eine herausragende Rhythmusmaschine vereint sich mit famosem Gebläse. Mette Rasmussen und John Dikeman an den Saxofonen wechseln mit Trompeter Alistair Payne flotte Dispute. Gegen Ende des Sets trumpft Bassist John Edwards mit einem explosiven, atemberaubenden Solo auf.

Schon am Eröffnungstag kann Mette Rasmussen mit einem Kammerkonzert der intensiven Art begeistern. Weird of Mouth nennt sich ihr Trio mit Craig Taborn und dem Perkussionisten Ches Smith. Nach neun Jahren Bandgeschichte bestens eingespielt, agieren sie in absoluter Augenhöhe, balancieren virtuos zwischen Dichte und Transparenz, changieren leichtfüßig zwischen lyrischer Reduktion und emotionaler Aufwallung. Gerade als am Samstag der ORF live in Festival einsteigt, kommt es auch zu einem kleinen Gewaltakt. Das Quartett [Ahmed] um den britischen Pianisten Pat Thomas legt einen mächtigen rhythmischen Boden, auf den Altsaxofonist Seymour Wright mit erstaunlicher Konsequenz und gewöhnungsbedürftiger Intonation drei Noten in einer 50-minütigen Endlosschleife legt. Thomas tobt wie ein wildgewordener Cecil Taylor. Die Musik verbindet Sahara-Blues und Minimal Music zu einer schier undurchdringlichen Klangmauer.
Ein vielgestaltiges Festival, das finanziell auch dank Fremdenverkehrsverband und Publikumstreue auf festem Grund steht, über ein ordentliches Budget verfügt und jedes Jahr eine beachtliche Zahl von Musikfreund:innen in den Pinzgau lockt. Schließlich hat man ja auch vom European Jazz Network den Jahresaward für abenteuerliches Programmieren erhalten. Das verpflichtet.
Christoph Haunschmid
Welch ein bemerkenswert kontrastreicher Auftakt bei den Short Cuts, der etwas kürzeren, kompakter besetzten und auch experimenteller angelegten Konzertreihe im Kulturzentrum Nexus, die jeweils vor den Shows auf der Hauptbühne stattfindet: Zunächst ein in diesem Rahmen ungewohnter Ausflug in Gefilde, die der neuen Musik zuzurechnen sind: Das Hamburger Ensemble Resonanz mit Max Andrzejewski (dr, vib), der für die Kompositionen verantwortlich zeichnet. Das sind oft an Minimal Music angelehnte, flowartige Passagen und dann wieder, der treibend-dynamischen Percussion geschuldet, expressive Atonalitäten, die unter die Haut gehen. Gleich nachfolgend: freier, energiepraller Jazz mit einer der derzeit zweifellos und zu Recht angesagtesten jungen Saxofonistinnen der Szene, Camila Nebbia, die auch den Namen dieses Projekts Eyes to the Sun beisteuert. In einer alten Bauernstube führt Camila Nebbia mit einem wie immer hingebungsvoll-hochintensiven John Edwards am Bass drei Tage später zudem ein derart aussagekräftiges Zwiegespräch, sodass man meinen mochte, beide wären schon seit Jahr und Tag ein Team und träfen hier nicht erstmals in dieser Form aufeinander.
Die charismatische Buchbinderei Fuchs war einem ganz besonderen Konzertreigen gewidmet: Im Rahmen des Salzburg-weiten Projekts Orte des Gedenkens fanden sich in Saalfelden und Umgebung unter dem Titel Der kürzeste Weg mehrere mit Bewegungsmeldern versehene Klanginstallationen, in denen O-Töne des antifaschistischen Eisenbahners Karl Reinthaler (1913–2000) zu hören waren, die dieser kurz vor seinem Tod aufnahm, um über die Bewegründe seiner Gegnerschaft zum Nationalsozialismus Auskunft zu geben (Künstlerische Konzeption: Rosa Andraschek & Simon Nagy). Das war durchwegs beeindruckend, etwa nachdenklich und zugleich lebendig angelegt (Lukas König & Robert Landfermann) oder gar punkig-explosiv mit Max Andrzejewski (dr) & Ruth Goller (e-b, voc), mit Kasho Chualan am präparierten Klavier nebst Electronik bildete Lukas König im Nexus zudem ein lautstarkes, mitunter spektakuläres Duo, das oft ins Noisige ausbrach und beiden reichlich Raum für individuelle Improvisationen ließ. Über Christian Lillingers immer wieder beeindruckendes, filigran-wirbelndes Drumming mit feiner Klinge und eigentümlicher Schlagtechnik muss hier nicht eigens berichtet werden, auch er war mehrmals on stage. Sein Gig mit der nicht minder alerten Vibrafonistin Patricia Brennan, die am Abend zuvor mit ihrem Septett Breaking Stretch für reichlich gute Laune sorgte, und dem Bassisten Jort Terwijn braucht bis ins zweite Set hinein, bis es wirklich zündet, das Publikum in Schwingung versetzt und substatielle Emergenzen hervorbringt.

Dem Andenken an die unvergessene Trompeterin Jaimie Branch war Ingebrigt Håker Flatens (b) Projekt (Exit) Knarr zu später Stunde auf der Mainstage gewidmet. Sie hätte sich zweifellos gefreut über dieses Sextett mit Amalie Dahl, Karl Hjalmar Nyberg (sax), Marta Warelis (p), Jonathan F. Home (g) und Olaf Olsen (dr), welches die Bühne zum Beben bringt und ganz zum Schluss noch Mette Rasmussen (sax) als Gast hinzubittet. Apropos hard working men: Wenn man mitanschauen (und -hören!) durfte, wie Håker Flaten, Jim Black oder auch John Dikeman, to name a few, sich in die spätabendlichen Jam-Sessions stürzten, Schweißbad inklusive, und jenseits von Gig & Geld ihre Spielfreude austobten, weiß man, was echte Leidenschaft für Jazz bedeutet.
Bernd Lederer