Donaueschinger Musiktage, 16. bis 19. Oktober
Das Thema Voices Unbound und das vielseitige Programm, das die Intendantin Lydia Rilling bot, haben wie jedes Jahr weit über tausend Besucher in die Donaustadt verführt, um bei Uraufführungen von Musikschaffenden aus 17 Ländern zu hören, auf welch verschiedene Weisen Stimmen ungebunden/befreit/unabhängig erscheinen – von menschlichen Stimmen bis zu Instrumentalstimmen. Interessanterweise waren viele leise Stimmen zu hören.
Schon im Eröffnungskonzert mit dem SWR Symphonieorchester lässt Mark Andre mit dem Stück Entfalten. Dem Andenken an Pierre Boulez ein feines Gewebe der Stimmen im untersten dynamischen Bereich erklingen. Auf der einen Seite raffiniert im Detail gearbeitet, mit verschiedentlich entfaltetem Material – auf der anderen Seite zurückhaltend, wie eine Verbeugung vor dem großen Meister. Im kommunalen Kino wurde mit dem Film Pierre Boulez – Der Weg ins Unbekannte dem 100. Geburtstag des Meisters gedacht.
Für sein Werk Paris, Banlieue für Orchester und Elektronik erhielt Philippe Leroux am Ende des Festivals den Orchesterpreis des SWR Symphonieorchesters. Die Idee, die kompositorische Umsetzung und die ausgewogene Handhabung von Orchester und Elektronik waren für die Zuerkennung des Preises ausschlaggebend. Tatsächlich war es nicht bei allen Orchesterstücken so. In einem Fall (Hannah Hartmann: Advanced Weather Information Processing) sind die Elektronik und die Zuspielung nicht nur von der Lautstärke, sondern auch von den Längen her dominierend – das Orchester kommt nur phasenweise zum Einsatz. In Paris, Banlieue sind fürPhilippe Leroux die komplexen Beziehungen zwischen Stadt und Vororten in ihren vielfältig möglichen Verbindungen Ausgangspunkt für musikalische Transfers mit instrumentalen und elektronischen Mitteln.

Bei dem fantastischen Vokalensemble EXAUDI aus London und der erstklassigen Bratschistin Tabea Zimmermann gab es wohl nur einhellige positive Meinungen zur Aufführung von Tell Tails für sechs Stimmen und Viola von Georges Aperghis. Er inszeniert in dem an die 50 Minuten dauernden Werk „ein Theater innerhalb der Musik“. Es ist ein virtuoses Kammerspiel zwischen instrumentalen und vokalen Stimmen mit immer wieder sich ändernden Klang- und Textkonstellationen bis hin zu abgerissenen Wortfragmenten.
Das Klangforum Wien ist zweimal vertreten. Unter der Leitung von Vimbayi Kaziboni und Xizi Wang verwandelt es den Bartók-Saal mit einem Konzept von Hanna Eimermacher mit dem Titel Aura in eine frei begehbare, mit Sitz- und Liegeflächen ausgestattete Raum-Klang-Installation. Ist es Zufall, oder ist es eine neue Strömung oder ein Suchen nach Neuem, dass in diesem Festival die ruhigen Stücke überwiegen? Umso erfrischender kommt im zweiten Klangforum-Konzert das Stück von Koka Nikoladze daher. Augenzwinkernd Masterpiece genannt, bedient sich der Komponist Akkorden, die sich immer wieder wiederholen, unterbrochen von einer japanischen KI-Stimme, die einen Nonsens-Text rezitiert. Wie sich der Text immer wiederholt und sich dabei nur gering weiterentwickelt, so muss man genau hinhören, um die Veränderungen in der Musik wahrzunehmen. Musik mit Witz ist sehr selten – hier ist es überzeugend gelungen.
Das Duo Czajka & Pucharz (Kiebitz & Uhu) kann in einem der zwei NOWJazz-Programme (kuratiert von Julia Neupert) die Musik ihres neuen Albums vorstellen. Kaja Draksler und Szymon GÄ…siorek beschreiben ihre Musik als Retro-Avant-Pop oder Forschungsarbeit zur Abstraktion von Alltagswelten. Ihr Instrumentarium Klavier und Schlagzeug erweitern sie mit Elektronik, Vocoder und Auto-Tune-Gesang, Perkussion. Eine gelungene und ĂĽberzeugende Darstellung davon, wie beim Verschmelzen von Pop-Sound, freier Improvisation und Experimentellem etwas erfrischend Neues entstehen kann.
Besonders hingewiesen werden muss auf die Klanginstallationen. Félix Blume hat für seine Installationen keine Mühe gescheut, was Aufnahmen auf Originalschauplätzen betrifft, die sich in einer verdichteten Art der Performance niedergeschlagen haben. Einmal ist es eine Vielzahl von Stimmen aus São Paulo, die auf der Suche nach einem besseren Leben in die Stadt zogen. Zu ihnen gehört auf der gegenüberliegenden Wand je ein Ohr: 50 Stimmen – 50 verschiedene Ohren. Mit der Installation Andante lässt er den Rhythmus von Donaueschinger Fußgänger:innen erklingen – gemessen am Schritttempo – ausgeführt durch Leihgaben von den Besitzern der Schuhe, die auf einfachen Resonanzkörpern „schreiten“. Eine polyphone und polyrhythmische Klangsinfonie!
Natürlich wird bei einem Festival viel über die eben gehörte Musik diskutiert. Ganz dezidiert initiiert wurde das sinnvoller und zielgerichteter Weise durch Künstler:innen-Gespräche, den fixen Programmpunkten Words on Music.
