Donaufestival Krems (2.–5. + 9.–11.5.), 9. bis 11. Mai

„Jede Zeit hat ihren eigenen Faschismus.“ Dieses Zitat von Primo Levi war heuer ein inoffizielles Motto des Donaufestivals in Krems, es fand sich auf Stofftaschen und kostenlosen Aufklebern gedruckt. Die Historikerin Marci Shore etwa spricht diesbezüglich, zunächst mit Blick auf Russland, aber mittlerweile auch auf die USA („Putinismus“, „Trumpismus“), von „Postmodernem Faschismus“ und markiert als charakteristischen Unterschied zu den klassischen Faschismen der Vergangenheit heute einen weitgehenden Verzicht auf absolutistische Wahrheitsansprüche im ideologischen Sinn: Vielmehr gehe es heute um die Abschaffung eben von Wahrheit selbst. Jedwede Einschränkung eigenen Handelns durch empirische Realitäten, durch evidenzbasierte Fakten, sei es einen Seuchenvirus, sei es den Klimawandel betreffend, wird bekämpft und negiert. Anstelle der klassischen faschistischen Mobilisierung einer Massenbewegung trete in der postmodernen Variante Demobilisierung, Passivierung und Sedierung durch regelrechten Fake-News-Overkill. Das offizielle Festivalclaim Confusion is next, Titel einer Sonic Youth-Nummer von 1983, bringt den hier nur angedeuteten zeitdiagnostischen Kontext nicht minder passend auf den Punkt: Im Zeitalter der „post truth“, der „alternativen Fakten“ und „gefühlten Wahrheiten“ lösen sich vernunftbasierte gesellschaftliche Diskurse in Lügen, Pöbeleien, Verschwörungsmärchen und blanke Hetze in den Kloaken der sozialen Medien auf. „Flood the zone with shit!“, das Motto des Trump-Rasputin Steve Bannon, also die Strategie, die Informationszone mit einem dauerhaften Schwall von Desinformation, Skandalen, Zersetzung, Gerüchten, Fake News und Drohungen zu überfluten, ist längst gängige Praxis aller Populisten und Demagogen.
Was tun? Das Donaufestival Krems versteht sich traditionell ausdrücklich als gesellschaftspolitisch orientiertes Kulturevent und keinesfalls nur als Musikfestival, es attestiert sich gesellschaftspolitische Relevanz und will diese auch attestiert bekommen. Das altersgemischte, überwiegend wahrscheinlich akademisierte Publikum darf als vergleichsweise kulturell wie auch politisch interessiert und informiert gelten. Entsprechend boten Filme, Performances, Kunstausstellungen und Diskussionsrunden Möglichkeiten einer zielgruppenadäquaten Bewusstseinsschärfung. Mit Georg „Überbau“ Seeßlen und Dietmar Dath (leider kurzfristig erkrankt) fanden sich etwa zwei der versiertesten Kulturkritiker des deutschsprachigen Diskursraums geladen, um sich gerade auch Fragen eines möglichen Neuanlaufs aufklärerischer Theoriebildung zu widmen. Wie auch bei anverwandten Events, die Musik und Kunst mit Gesellschaftsanalyse verbinden, also etwa das Elevate in Graz oder die Ars Electronica in Linz, bleibt freilich stets die Frage nach der Substanz und Nachhaltigkeit solch ehrenwerter Bemühungen.
In Krems jedenfalls schien die gegenwärtige Theorielosigkeit mit Händen zu greifen, sobald sich politische Deklamationen auf und vor der Bühne in wohlfeilen (und unterkomplexen) „Free Palestine!“-Statements in Wort und Fahnensymbolik erschöpften (und einmal auch zu aggressiven Unmutsäußerungen im Publikum führten). Politische Aussagen on stage waren meist nur eigene Betroffenheitsbekundungen angesichts der aktuellen Weltläufte (und das mitunter enervierend) oder auch eher szenetypischer Ausdruck identitätspolitischen Zeitgeists, denn Ausdruck theoriegesättigter Gegennarrative zur gegenwärtigen „Rezession der Demokratie“ (Larry Diamond).
Ganz anders indes die politische Aussagekraft der brasilianischen Performanceaktivisten der Original Bomber Crew, die mit ihren Ausdrucksmitteln, einer Mischung aus hektischer Bewegung (etwa auf Skateboards), Posen und Tanz in düster abgedunkelter Halle symbolisch und spektakulär Straßenkämpfe und Demonstrationen in Favelas nachinszenieren. Auch die erfrischend vielseitige, immer wieder mit neuen Projekten und Kollaborationen überraschende Moor Mother aka Camae Ayewa bot mit Lonnie Holley einen politisch relevanten, gesangslastigen Streifzug durch die Black History mit Anlehnungen an Blues, Soul, Gospel und Jazz, vorgetragen mit tiefem, gefühlvoll-vibrierendem Pathos. Kein heiterer, sondern ein nachdenklicher Abschluss des Festivals, den politisch und sozial düsteren Zeiten entsprechend.
Bezüglich dem politischen Anspruch eines Kulturfestivals wie Krems, das trotz allem doch überwiegend ein Musikfestival ist, stellt sich ohnehin die grundsätzliche Frage: Ist nicht schon allein die Neugierde auf teils Unerhörtes, ist die intellektuelle Bereitschaft und der zugehörige soziokulturelle Habitus, Musiken weit jenseits kulturindustrieller Massenware zu goutieren, sich mit Leuten zu vergesellschaften, die teils ähnliche minoritäre Geschmäcker und Orientierungen leben, nicht bereits politisch genug? Ist, um ein schönes Beispiel zu nennen, ein konstruktiv-zerrüttendes, jedweder Mainstreamverwertung unzugängliches Industrial-Noise-Inferno wie jenes von Yellow Swans auf seine Art nicht auch ein politisches Statement? No bullshitting, keine Betroffenheitsbekundungen, nur pure, jede Körperzelle durchdringende Soundenergie, die das Duo Pete Swanson und Gabriel Mindel Saloman da erzeugen: Let the music do the talking! Wer dachte, danach kann in Sachen Energie gar nichts mehr kommen, sah sich getäuscht: HHY & The Macumbas erzeugten mit ihrem monotonen, aber originellen und mitreißenden Sound, einer Art technoidem „Industrial Dub“, beste Stimmung, was auch in der coolen, trotz ihrer Vitalität von posenhaftem Understatement getragenen Show dieses Septetts gründete.
Wer will, dass ihm oder ihr auf Festivals alles gefällt, muss auf inhaltlich-thematisch enggeführte Genreveranstaltungen gehen, ein Programm wie in Krems ist absichtlich zu divers, um jeden Geschmack treffen zu können oder auch nur zu wollen: So kommt es beispielsweise, dass die von vielen umjubelte Haley Fohr alias Circuit Des Yeux mit ihrem leidenden Emo-Gothic-Style andere eher fadisiert, der in der Tat beeindruckenden Stimme zum Trotz. Weitere Impressionen und Beleg der Vielseitigkeit des Gebotenen: Das neunköpfige Shovel Dance Collective bietet English-Scottish-Irish-Folk-Tunes in Rebel-Song-Tradition dar, gleichfalls das Quartett Lankum aus Dublin, beide inszenieren aber kein tanzwütiges Folkspektakel à la Pogues, sondern überwiegend traditionelle, nicht selten balladeske Songs. O., das sind Joe Henwood und Tash Keary, erinnern als Duo an White Stripes und White Miles, wobei die Drummerin aber nicht von E-Gitarre, sondern vom Baritonsax begleitet wird. Imposant, leider aber mit zu viel Dröhnen und übersteuertem Sax und insbesondere zu viel Gerede zwischendurch. Bei Use Knife stellt sich die Frage: Ist das Weltmusik, dieser Mix aus westlich-technoiden und arabischen Sounds und Instrumenten?; das Duo Demdike Stare lässt danach zur Kontrastierung technoides Noise-Gewitter herabprasseln. Von vielen freudig erwartet und mit Vorschusslorbeeren bedacht: Spiritualized: ein wilder, lauter Gig, der an Melvins gemahnt und passagenweise auch an die Swans anlehnt, aber kaum beginnen die zehn(!) auf der Bühne das Publikum in einem Mælstrom des Noiserock zu verschlingen, kommt verlässlich gleich die nächste Ballade ums Eck und sediert die Ohren fast schon mit Soft-Rock. Den meisten hat‘s trotzdem gefallen.
Festivals sind, mit Michel Foucault sprechend, „heterotope Räume“, das sind konkrete, gelebte Dystopien oder, wie hier eben, Utopien, freilich zeitlich und räumlich klar begrenzt und definiert. Jede heile Welt des Festivals, von (häufig) Gleichgesinnten und von erbaulicher Kunst und Kultur umgeben, hat ihr Ende, danach geht es wieder in den Alltag zurück. Vielleicht dann aber doch immerhin mit ein paar neuen Ideen und Inspirationen, nicht zuletzt auch mit Endorphinen im Blut, die eine Zeit lang nachwirken. Diesen Anspruch erfüllt ein Event à la Donaufestival allemal – und das gar nicht zu knapp.
Bernd Lederer