Klangspuren Schwaz, 11. bis 25. September
Ist zeitgenössische Musik eine Wissenschaft? Wenn Thomas Wally, Komponist, Musiker und Moderator der Sendung Musik auf der Couch auf Ö1 sowie Uni-Dozent für die Fächer Satzlehre, Gehörtraining und Analyse, seine Rolle als Musikvermittler persifliert und im Rahmen einer gewitzten Theaterperformance seine ausufernden Kenntnisse der Musiktheorie und -geschichte in einem Tsunami von Fachbegriffen und Konzeptionen, von Referenzen und Kontexten kompositorischer und literarischer Kulturgeschichte über das Publikum ergießt, ertappt man sich selbst beim Zweifeln: Ist das genialische, weil tatsächlich ja konsistente musiktheoretische Analyse – oder doch die Ironisierung einer allzu oft über-elaborierten, verkopften Musikrezeption, wie sie ja gerade in der meist als hochschwellig empfundenen neuen Musik nicht unüblich ist?

Es ist wohl beides, wenn Wally das Werk seines fiktiven Alter Ego, eines Komponisten namens Karl Dieter, erörtert und erläutert. Dass sich diese Auftragsarbeit für das Studio Dan jenseits konventioneller Bahnen vollzieht, ist hierbei nicht überraschend. Unter dem Dirigat von Xizi Wang wird sozusagen eine Partitur in Fraktur aufgeführt, die ständig, von den Kommentaren Wallys getriggert, zwischen Sentenzen der fiktiven Komposition und musikgeschichtlichen Zitaten changiert. Ein Bravourstück, das dem Ensemble höchste Konzentration abverlangt. Es bleibt nach dieser Uraufführung ob der nachgerade Ehrfurcht gebietenden Tiefe musiktheoretischen Fachwissens bei gleichzeitig spielerischer Unterhaltung die Erkenntnis, dass das Reden und Nachdenken über komplexe Musiken zwar eine anspruchsvolle Sache ist, die aber zugleich auch Vergnügen bereiten kann.
An diesem Beispiel, einer von insgesamt 16 Veranstaltungen der diesjährigen Klangspuren, lässt sich auch die Handschrift des im vierten und letzten Jahr verantwortlichen Kurators Christof Dienz erkennen: Musik und ihre konzertante Praxis werden ins Performative überschritten, mitunter sogar sehr weit. So etwa auch keine 24 Stunden später, wenn im finsteren Keller einer Off-Bühne das Hyper Duo (Gilles Grimaitre und Julien Mégroz) mit einer Aktionstheater-Performance (Konzept: Pierre Jodlowski) das Publikum einer Reizüberflutung mit schnell geschnittenen, verstörend-dystopischen, teils gewalttätigen Videos und Spielszenen aussetzt, wobei das Geschehen vor und auf der Leinwand teils gekonnt einander übergeht. Untermalt wird das alles andauernd von enervierend dissonanten, teils noisigen elektronischen Sounds (Matthieu Guillin). Von einem Konzert im üblichen Sinne, gelegentlichen Keyboard- und Percussionseinlagen zum Trotz, konnte bei dieser bemüht originellen Show keine Rede sein.
Dass auch ein klassischer Klangkörper zu Spektakulärem fähig ist, Witz, Inspiration und individuelles Können vorausgesetzt, beweist hingegen das Ensemble Chromoson aus Südtirol: Sieben frische, klangsatte Kompositionen geraten zur Aufführung, die, nicht nur wegen der vereinzelt eingespielten, mal mehr, mal weniger originellen Videos, gleichfalls ihr Konzert ins Performative hinein überschreiten. Das ist mixed music, bei der die Instrumente wechseln und auch mal zerknüllte Alufolie mit dem Streicher bespielt wird, immer wieder wabert über allem elektronischer Sound, ohne aber das instrumentell-akustische Geschehen zu dominieren. Hervorzuheben ist Alexander Schuberts Point Ones für kleines Ensemble und Live-Elektronik sowie einem „erweiterten Dirigenten“, namentlich Lars Mlekusch, der mit Gesten und Körperbewegungen die Elektrosounds zu modulieren scheint, einem Cyborg mit Datagloves ähnelnd: Es zischt und knallt und dröhnt, dass es eine wahre Freude ist! Eine Künstliche Intelligenz, soviel sei hier zur Debatte über das Verhältnis Mensch-Maschine in der Musik der Zukunft angemerkt, hätte beim Ensemble Chromoson keine Chance, viel zu singulär und vielseitig sind die Stücke angelegt, als dass eine KI hier wiederkehrende Muster statistisch berechnen könnte.
Schonender für das sensible Gehör hingegen das italienisch-schweizerische Quartetto Maurice & Solovoices in der imposanten Jesuitenkirche: Vier Paare, je ein Streichinstrument und eine Stimme, zu einem Quadrat angeordnet, performen Justé Janulyté‘s Komposition Nodo Infinito: Das sind Ligeti-eske, sphärische, sirrende Sounds, die ebenso zur Transzendenz ermuntern wie das nachfolgende Stück Mirror Games für vier Stimmen und Streichquartett von Bernhard Lang, wo neben das Sphärisch-Entrückte gelegentlich noch sakrale und mittelalterlich-gregorianisch anmutende Motive treten. So beeindruckend die Werke und die passende Kulisse, so suboptimal ist freilich die Akustik in dieser domartigen Kirche.
Die Klangspuren Schwaz wären nicht dieselben ohne ihr zentrales Anliegen der Nachwuchsförderung, seit einigen Jahren in Form des Future Lab: Composers Lab: Eine Woche lang konnten sieben aus 140(!) Bewerbungen ausgewählte Komponist:innen unter der fachkundigen Anleitung von Justé Janulyté und Johannes Maria Staud ihre Werke mit dem sechsköpfigen Studio Dan (Dirigentin: Lin Liao) ausarbeiten und im Knappensaal des Szentro Schwaz zur Uraufführung bringen. Jede einzelne Aufführung vermochte durch eigene konzeptionelle Überlegungen, tonale Handschrift und inszenatorische Eigentümlichkeiten zu überzeugen: Tina Geroldinger etwa hinterlegt ihr Stück Kmobiläfer mit Videos im Sinne einer „Bilderorgel“, Yixie Shens Heißluft versucht sich an einer Symbiose von neuer Musik und Jazzmotiven, Carmel Curiel lässt in ihrer ironiesatten Komposition das Ensemble in Accessoires mit Leopardenmuster auftreten, und Augustín Castellón Molina animiert das Studion Dan in seiner überaus vitalen Komposition zu theatraler Mitwirkung mittels Mimik. Kurzum: Hinsichtlich Originalität und Können des kompositorischen Nachwuchses muss wirklich niemandem bange sein.
Gleichsam ein Markenkern der Klangspuren und fixer Festivalbaustein ist die Klangwanderung, diesmal wieder in höher gelegene alpine Gefilde rund um das Kellerjoch: Alexandra Dienz und Chris Norz präsentieren am Kontrabass eine Komposition des Intendanten, wobei das subtil-konzentrierte Spiel ersterer zusammen mit der Außenbearbeitung des Spielgeräts durch letzteren eine feine, komplexe, aber nicht überkomplexe Musik entfaltet, die vor der atemberaubenden Kulisse des Inntals das Publikum entrückt. Annette Fritz spielt vier Stücke für Violine solo im Bergwald, Khadijah Pamelia Stickney bringt ihr Theremin unter einer Sesselliftstation zum Schwingen, das Ensemble Lautstark vom Verein klanggang bietet Kindern und Jugendlichen eine Bühne, um die Ergebnisse ihrer Werkstatt zu präsentieren. Zurück in Schwaz setzt das Tiroler Kammerorchester InnStrumenti den fulminanten Schlusspunkt mit fünf bemerkenswerten Stücken, wobei in Sachen Lebhaftigkeit und Dynamik vor allem Hannes Kerschbaumers synical flux für Kammerorchester vor dem Hintergrund fließend-psychedelischer Videos überzeugt. Nicht minder beeindruckend: Bernhard Ganders Uraufführung Three Thrashy Threads, das für dessen oft etwas brachiale, zumindest lautstarke Partituren fast schon gemäßigt anmutet. Ähnlich Ganders Premiere Extended Ecstasy beim Konzert des fünfköpfigen Airborne Extended, die ihm auch den Kompositionsauftrag erteilten: Seine zuletzt durch hochfrequente, durchs Mark gehende Töne stimulierende Komposition wird für Ganders’sche Verhältnisse durch die Instrumentierung sozusagen ein wenig gezähmt, statt Perkussion spielen die Akteurinnen Flöten, Cembalo, Harfe, teils Electronik, und verquicken hierbei gekonnt alte, traditionelle Instrumente mit zeitgenössischer Musik, die auch auf moderne Technikfeatures zugreift. Manuel Zwerger gelingt es gar, in seiner Rave Party for Kidz, einer ironischen, ereignisreichen Performance, vor dem Hintergrund einer Videoinstallation, die ein Flöte lernendes Kind, Rasenmäher, tropfende Wasserhähne, Werkzeugmaschinen und auch Szenen einer Raveparty zeigt, Techno-Beats erdröhnen zu lassen, dazu gibt es schrägen Gesang und originelle Sounderzeugungen. Allerbeste, erquickliche Unterhaltung!

Bilanz: 18 Konzertveranstaltungen, darunter 24 Uraufführungen und neun österreichische Erstaufführungen, wie immer an unterschiedlichsten Veranstaltungsorten, zu denen auch wieder ausgefallene Spielstätten wie der Dachstuhl der Schwazer Pfarrkirche oder eine Viehversteigerungshalle zählten. In diesem „Konzertsaal“ der etwas anderen Art saßen sich die Schlagzeuger Lukas König, Herbert Pirker, Niki Dolp und Bernhard Breuer gegenüber: Letzterer konzipierte auch diese Transitions genannte Performance, bei der alle vier idente Drumpatterns spielen, jedoch in unterschiedlichen Tempi. Das Ergebnis sind Steve Reich’eske Soundstrudel, die einen in den Bann zu ziehen vermögen.
Die Klangspuren Schwaz sind längst eines der konzeptionell abwechslungsreichsten und vielseitigsten Festivals zeitgenössischer Musik in Europa. Christof Dienz‘ Beitrag zur deren Weiterentwicklung war es in den letzten vier Jahren, die Kategorie „neue Musik“ konzeptionell sehr weit auszudeuten, typisch waren juvenile, sehr oft bewegungs- und ausdrucksorientierte, niederschwellige, dabei gleichwohl anspruchsvolle Konzerte, bei denen mitunter auch jüngeres Publikum anzutreffen war. Im nächsten Jahr übernimmt der niederländische Trompeter und Kurator Marco Blaauw die künstlerische Leitung, man darf auf seine Interpretationen und Repräsentationen neuer bis neuester Musiken, die er in Schwaz und Innsbruck vor- und zur Diskussion stellen wird, schon gespannt sein.