Ein Jahr jünger als freiStil, aber genauso frei im Geiste: The Dorf, die Lieblings-(Big-)Band aus dem Ruhrgebiet um Mastermind Jan Klare, geht weiter ihre eigenen Wege und hat nach wie vor die Kraft, Ungewöhnliches und Unerhörtes aufs Parkett zu bringen. Anfang April lud die Gruppe nach Münster ins Pumpenhaus. Das Motto DorfDisco sowie der Untertitel Schwitzhütte ließen erahnen, wohin die Reise gehen sollte. Und auch die Ankündigung machte neugierig: „Bequeme Kleidung wird empfohlen. Es gibt eine Bar.“ Wer da nicht neugierig wird …

An zwei Abenden bietet das Dorf-Ensemble eine wilde Mischung aus Disco, Animation und musikalischer Performance. Es gibt keine Bestuhlung und keine Bühne, die Band sitzt auf zwei Inseln mitten im Raum. Nebel senkt sich herab und umgarnt die fette Discokugel. Der Beat treibt die Tanzenden voran, sie hüpfen und schweben durch den Raum. Dabei werden sie von Marie-Lena Kaiser und Hayeon Song unterstützt, die wie zwei sehr subtile Enzyme funktionieren, die in dem gesamten Strom der Tanzenden kleine aber spürbare Impulse geben, sagt Jan Klare.
Die Resonanz war wesentlich besser als erwartet. 150 Besucher:innen pro Abend, die meisten zwar Ü30, aber immer noch jünger als bei klassischen Jazz-Konzerten. Vorher hatte es noch Bedenken gegeben, da Münster nicht wirklich zum Einzugsgebiet von The Dorf gehört. Diese wurden schnell beiseite geschoben. „Einen derart intensiven Austausch mit dem Publikum hat es vorher noch nicht gegeben“, schwärmt Klare hinterher, das Ganze sei „sehr beglückend“ gewesen.
Vorbilder für die DorfDisco gibt es nicht wirklich – weder Merry Pranksters noch die Warhol-Factory. Ausdruckstanz in Batikklamotten war auch nicht vorgesehen. Letztlich sollte es „eine Zusammenkunft verschiedener Künste sein, bei der etwas völlig Neues entsteht“, sagt Klare. Das Ganze sei nur zum Teil geplant gewesen und letztlich durch die spontanen Erlebnisse und Interaktionen mit dem Publikum geprägt worden. „Die Livemusik ist für diese Situation speziell entwickelt – sehr rhythmisch, trancig, dann weich und überraschend – auch ein paar „alte Bekannte“ tauchen auf. Zwei Tänzerinnen sind im Raum anwesend, ansprechbar und sich mitbewegend. Die Musik bewegt das Herz – der Körper folgt“, heißt es auf der Homepage, und manch einer hatte einen Flashback in eine Zeit, in der man sich gemeinsam verabredet hat, um Musik zu hören, Drogen zu nehmen und etwas im besten Sinn Spirituelles zu erleben.
Auf die Dorf-Konzerte im Dortmunder domicil lässt sich die DorfDisco leider nicht übertragen. „Allein der Aufbau der Band ist zu komplex“, sagt Klare. Bei der DorfDisco kann er wie ein MC oder DJ agieren und die in zwei Gruppen aufgeteilte Band zum Beispiel ein- und ausfaden. Das lasse sich in einem Jazzclub, dessen Programm täglich wechselt, kaum realisieren, da allein der Bühnenaufbau, das Monitoring oder die Installation der Technik einen kompletten Tag benötigten. „Vielleicht können wir ja den einen oder anderen Festivalmacher davon überzeugen, die DorfDisco einzuladen“, sagt Klare. Moers etwa oder die Zappanale, wo The Dorf im Juli mal wieder als Big Band auftritt.
Der Trip geht weiter
Bis dahin geht der Trip in der gewohnten Umgebung weiter. Seit fast zwei Jahrzehnten bespielt The Dorf das Ruhrgebiet und dessen Umland. Fixpunkt ist immer noch das domicil in der Dortmunder City, wo die Band seit ihrer Gründung jeden dritten Donnerstag im Monat auftritt – meist umsonst, es sei denn, es haben sich prominente Gäste angesagt: F. M. Einheit etwa, der ehemalige Schlagwerker der Einstürzenden Neubauten. Vor vielen Jahren schaute er gemeinsam mit Caspar Brötzmann vorbei, um mit der Gruppe zu spielen. Nachzuhören ist das auf der vorzüglichen LP Evyl. Dass Einheit aus Bochum stammt, dürfte nicht allen bekannt sein, machte die Sache aber umso runder. Und schließlich brachte Phill Niblock The Dorf sogar dazu, seine minimalistische Komposition Baobab live aufzuführen. Auch das zeigt, wie variabel die Band agiert.
Bei The Dorf geht es seit jeher darum, die Künste zusammenzubringen, die durch gesellschaftliche und vor allem kommerzielle Entwicklungen ebenso künstlich getrennt wurden. Einflüsse aus Jazz, Noise, Elektronik, Krautrock, Punk und Minimal Music verbinden sich mit Film, Kunst und Performance zu einem Mix, der seinesgleichen sucht, nicht nach Grenzen fragt und bestehende niederreißt.
Doch zwei Jahrzehnte sind für eine Band, die als Kollektiv funktioniert, auch eine sehr lange Zeitspanne. Man könnte The Dorf deshalb auch als Dinosaurier beschreiben, die es zudem nicht wirklich schaffen, als tourende Band die Welt oder zumindest die Nachbarschaft zu bereisen. Dass dem Ensemble aber das Schicksal der Dinos ereilt, ist allerdings nicht zu befürchten. „Eine Band muss nicht nur mit Geld, sondern auch mit künstlerischen Anreizen und Ideen gefüttert werden, damit sie weiterlebt“, erklärt Klare. Und auch die Veranstalter bräuchten immer neue Anreize, um The Dorf einzuladen. Einen Status wie das Sun Ra Arkestra oder die Duke Ellington Big Band erreichen halt nur wenige.
Klare hat deshalb auch vor, noch gezielter und intensiver an und mit den Kompositionen zu arbeiten. „Oft sind wir zu viele Leute, um gezielt zu agieren und so eine größere Verbindlichkeit aufzubauen.“ Eine Verkleinerung der Gruppe könnte dabei helfen, würde aber den Charakter von The Dorf etwas konterkarieren. „Ich will schon, dass die Gruppe weiter offen bleibt für Leute, die nur unregelmäßig reinschauen; dennoch wäre es wünschenswert, einen Kern zu haben, der intensiver miteinander musiziert“, sagt Klare. Ein Dilemma, das sich vermutlich nicht auflösen lässt. Immerhin sind zuletzt sind drei neue Musiker:innen um die 30 dazu gekommen, was auch auch dazu führt, dass der Altersschnitt sinkt. Das war lange nicht mehr der Fall. Auch der Anteil an Musikerinnen konnte weiter gesteigert werden.
Dass es im Laufe der Zeit zu Veränderungen kommt, ist trotzdem unvermeidlich. Im vergangenen Jahr ist Schlagzeuger Simon Camatta ausgestiegen, Anton Zimmermann hat seinen Platz eingenommen. Von den Gründungsmitgliedern sind unter anderem Elektroniker Achim Zepezauer und Saxofonist Florian Walter weiter dabei. Letzterer lebt zwar mittlerweile in Zürich, schafft es aber immer wieder back to the roots.
Und keine Angst, es klingt, trotz einiger personeller Umbesetzungen, immer noch nach The Dorf. Das hört man auch auf der jüngsten Aufnahme GLAM, für welche die Formation neuere Stücke (ANC, Odds und Glimlach) und ein neu arrangiertes altes Stück live aufgenommen hat, das den Namen NOMEN trägt. Der Sound ist perfekt abgemischt, und das Ganze wirkt laut Klare „noch intensiver, teilweise bombastischer, aber eben auch kleinteiliger“ als früher.
Die Platte ist auf dem eigenen Label Umland Records erschienen, das vor ziemlich genau zehn Jahren auf einer Reise durch Österreich gegründet wurde. Mittlerweile betreiben Walter und Klare das Label zu zweit. „Flo, Simon (Camatta) und ich saßen damals im Bus, irgendwo zwischen Diersbach und Ulrichsberg“, erinnert sich Klare – und während die oberösterreichische Landschaft langsam draußen vorbeihuschte, sei ihnen die Idee gekommen, die eigene Musik selber zu produzieren und zu vermarkten.
Anlass für die Reise war das zehnjährige Jubiläum von freiStil. Die Redaktion durfte sich für das Ulrichsberger Kaleidophon 2015 ein Geburtstagskonzert wünschen, die Wahl fiel auf The Dorf – wofür die Kaleidophon-Bühne extra erweitert wurde, um allen Mitwirkenden Platz zu bieten. Weitere Stationen der Tour waren das Porgy & Bess in Wien und Paul Zauners Scheune in Diersbach. Nachzuhören ist das ganze auf der MC Made in Österreich, der ersten Veröffentlichung auf Umland. Da diese vergriffen ist, steht auf Bandcamp ein Download bereit.
Auf Umland erscheinen jährlich bis zu einem Dutzend neuer Platten, von The Dorf selbst, aber auch von so genannten Splittergruppen aus dem Dorf-Umfeld. Der neue Schlagzeuger Anton Zimmermann hat eine Platte aufgenommen, die im Herbst bei Umland veröffentlicht wird. Sie geht eher in Richtung Post-Industrial mit Jazz-Einflüssen und zeigt auch die Bandbreite der Gruppe und ihrer Mitglieder. Vor kurzem erschien auch Count von Kind, einem Sextett um Jan Klare. Weitere werden folgen.

Das Ende der Kohle?
Wie viele andere Gruppen und Projekte müssen sich auch The Dorf und Umland Records auf die Flaute in der Kulturförderung einstellen. Aktuell steht die öffentliche Ensemble-Förderung auf der Kippe. „Die Fördergelder für das laufende und kommende Jahr werden derzeit nicht mehr ausgeschrieben“, sagt Klare, das heißt: Die Gruppe kann derzeit zumindest nicht fest mit öffentlichen Geldern planen. Die Auswirkungen wären fatal, vor allem für zahlreiche freie Angebote in der Theater- und Musikszene. The Dorf nutzt die Mittel etwa für multimediale oder Crossover-Projekte. Vor einigen Jahren wurde so der Animationsfilm Das Ende der Kohle von Achim Zepezauer finanziert. Die Band lieferte die Begleitmusik, und gemeinsam führte man Film und Musik mehrfach live auf, anschließend erschien auch eine DVD. Auch die DorfDisco hat von der Förderung profitiert.
Aktuell hat Jan Klare jedenfalls das Gefühl, dass gerade in der freien Szene viele abwarten, wie es in der Kultur auch finanziell weitergeht. „Kommt der große Paukenschlag, oder kommt er nicht?!“ Das kann man selbstverständlich auch auf die Politik und Ökonomie im Allgemeinen übertragen, global wie lokal. Auch wenn Klare in dem Zusammenhang nicht von der „großen Depression in der Kultur“ sprechen will, würden die Herausforderungen, große Projekte zu realisieren, immer größer.
Und das bekommen auch Gruppen wie das Bonner Fringe Ensemble zu spüren, dessen Existenz, inklusive eigenem Theater, massiv gefährdet ist. Das Ensemble wurde vor einem Vierteljahrhundert gegründet und ist national wie international an zahlreichen multimedialen Projekten beteiligt, das trifft auch auf Musiker:innen von The Dorf zu. Jan Klare und Achim Zepezauer waren Teil des Crossover-Projekts Garten des Widerstands, das in Zusammenarbeit mit dem Kunstmuseum Bonn entstand. Das mehrteilige Projekt ist ein multimediales künstlerisches Biotop, das von den Schriften des Landschaftsarchitekten und Philosophen Gilles Clément inspiriert wurde. Im Zentrum stand sein Aufruf, sich dem „Diktat der Effizienz“ zu widersetzen. Sein Rat lautet stattdessen: „Innehalten. Beobachten. Verstehen. Träumen. Dann gestalten“. Welch ein Antagonismus zu dem, was in der verwalteten Welt unter Kultur und dessen „Förderung“ verstanden wird.
Trotzdem heißt es weitermachen: In Moers, wo The Dorf im Jahr 2011 den ersten richtig großen Auftritt hatte und anschließend noch dreimal wiederkommen durfte, ist man in diesem Jahr nicht dabei, Jan Klare kuratiert aber die „Morning Sessions“ und wird einige Male auch selbst auf der Bühne stehen. Und natürlich wird es im Herbst ein „The Dorf und Umland-Festival“ geben. Seit letztem Jahr gibt es ein neues Format: Früher standen oft zwei kleine Formationen (Splitterbands aus dem Dorf-Kosmos) und als Höhepunkt am Abend ein Konzert von The Dorf auf dem Programm. – auf drei Städte an drei Tagen im Ruhrgebiet verteilt. Nun gibt es an zwei Abenden im November im domicil ein Dorf-Konzert und jeweils am Nachmittag davor „Interventionen“ im öffentlichen Raum, die sich auf die gesamte Stadt Dortmund verteilen.
Und vielleicht sorgen die Interventionen auch dafür, dass Leute, die sich in dem eingerichtet haben, was man am als Anhängsel der Kulturindustrie bezeichnen kann, auf The Dorf und andere freie Künstler:innen aufmerksam werden. Die Geschichte von The Dorf und seinem Umland ist jedenfalls noch längst nicht zu Ende erzählt.
Holger Pauler
thedorf.net
thedorf.bandcamp.com
umlandrecords.bandcamp.com
janklare.de
Auswahldiskografie:
The Dorf, GLAM (Umland, 2025)
Kind, Count (Umland, 2025)
3000, Unrepeatable (Umland, 2024)
The Dorf, Baobab/Echoes (Umland, 2020)
The Dorf feat. F.M. Einheit & Caspar Brötzmann, Evyl (The Korn, 2015)
The Dorf, Made in Österreich (Umland, 2015), MC vergriffen,
Download über thedorf.bandcamp.com
THE DORF
glam (LP/CD)
Umland / Boomslang
Sicherheitshalber nimmt die Dorf-Kapelle gleich von Beginn an (Odds) den nötigen Schwung auf, um die swingende Community warm zu spielen. Wir hören einen Livemitschnitt, in dem vier Posaunen für einen entsprechend fetten Sound sorgen, zwei Drummer (damals noch mit Simon Camatta) von hinten ordentlich antauchen, und zwei Vokalistinnen (Marie Daniels und die fabelhafte Oona Kastner, die in dieser Gazette schon mit Hymen bedacht wurde) das Tüpferl unters I setzen. Das 24-köpfige Ensemble aus NRW (Ruhrgebiet und Umland) wechselt im zweiten Track (ANC) ins mittlere Tempo. Das lässt Platz für kollektive und individuelle Freiräume und bäumt sich gegen Ende hin mächtig auf. Glimlach startet experimentierlustig, bevor der Gesamtsound gemächlich aber unwiderstehlich dorthin abzuheben beginnt, wo Jan Klare, der alle vier Stücke komponierte, sein „Air Movement“ genanntes Dirigat steuert. Und das finale Nomen ist Omen für die Neueinspielung eines frühen Dorf-Stücks. Eine ungewöhnlich ruhige, schön dunkle, den famosen Stimmen vorbehaltene Stimmung klingt aus wie ein Hauch. Glamourös!
(felix)